Über die Liebe by Stendhal

Über die Liebe by Stendhal

Autor:Stendhal [Beyle, von Stendhal - Henry]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Eugen Diederichs
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


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51. Über die Liebe in der Provence bis zur Eroberung von Toulouse durch die nordischen Barbaren im Jahre 1328

Die Liebe erfuhr in der Provence von 1100 bis 1328 eine sonderbare Entwicklung. Es gab anerkannte Gesetze für die Liebesbeziehungen zwischen beiden Geschlechtern, die gleich streng und genau befolgt wurden wie vielleicht heute die Gesetze der Ehre. Die geheiligten Rechte der Ehe traten vor ihnen völlig in den Hintergrund, Heuchelei war etwas Unbekanntes, und da die Gesetze die menschliche Natur nahmen, wie sie ist, mußten sie viel Glück hervorbringen.

Es gab eine ganz bestimmte Form, sich in eine Frau verliebt zu erklären, und ebenso eine, als Liebhaber angenommen zu werden. Nach einer gewissen Zeit vorschriftsmäßiger Huldigung war es gestattet, der Geliebten die Hand zu küssen. Die noch junge Gesellschaft gefiel sich in Förmlichkeiten und feierlichen Gebräuchen, die, damals ein Zeichen von Bildung, heute sterbenslangweilig wären. Der gleiche Charakter tritt in der provenzalischen Sprache zutage, in der Künstelei und Geziertheit ihrer Verse, in den männlichen und weiblichen Wörtern für die Bezeichnung ein und desselben Gegenstandes, endlich in der ausffällig großen Zahl ihrer Dichter. Alles, was in der Gesellschaft Form ist, was heute so geschmacklos erscheint, hatte damals die ganze Frische und Kraft der Neuheit.

Nach dem Handkusse rückte man Grad für Grad auf, je nach Verdienst und ohne Bevorzugung. Wohlgemerkt, wenn auch die Ehemänner nie in Frage kamen, so gab es anderseits für die förmliche Annäherung der Liebhaber eine Grenze dicht an den Wonnen der zärtlichsten Freundschaft zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts.Vgl. Chabanons, Tableau de quelque circonstances de ma vie …, Paris, 1795. Erst nach mehreren Monaten oder Jahren der Prüfung, wenn eine Frau über den Charakter und die Verschwiegenheit eines Mannes völlig sicher war, und dieser die äußeren Formen und die Ungezwungenheit der zärtlichsten Freundschaft mit ihr teilte, mochte solche Freundschaft die Tugend stark beunruhigen.

Ich sprach von Bevorzugung, das heißt, eine Frau konnte mehrere Liebhaber, jedoch nur einen ersten Liebhaber haben. Anscheinend kamen die anderen nicht viel über den Freundschaftsgrad des Handkusses und des täglichen Besuches hinaus. Alles, was uns von jener seltsamen Kultur übrig geblieben ist, besteht in Versen, und zwar in Versen barockster und schwierigster Art. Man darf sich nicht wundern, wenn unsere auf die Balladen der Troubadoure gestützte Kenntnis unklar und wenig genau ist. Man hat sogar einen Heiratsvertrag in Versen gefunden. Nach der Eroberung von 1328 ordneten die Päpste zu wiederholten Malen an, daß alle Handschriften in der Landessprache als ketzerhaft verbrannt würden. Die römische Arglist verkündete das Lateinische als einzig und allein eines so geistvollen Volkes würdige Sprache.

Auf den ersten Blick scheint so viel Öffentliches und Förmliches in der Liebe nicht im Einklang mit der wahren Leidenschaft zu stehen. Wenn die Dame zu ihrem Ritter sagte: »Geht aus Liebe zu mir und besucht das heilige Grab zu Jerusalem, bleibt dort drei Jahre und kehrt dann zurück!« so machte sich jener sofort auf den Weg; ein Augenblick des Zögerns hätte ihn mit gleicher Schande bedeckt wie heutzutage eine Schwäche in Ehrensachen.

Die Sprache jener Zeit besaß eine große Feinheit, um die flüchtigsten Schattierungen der Empfindung auszudrücken.



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